Die meisten Schüler meiner Zehnten arbeiten ruhig und konzentriert, füllten mit den Köpfen in den Atlanten ihr Arbeitsblatt mit allen europäischen Ländern aus. Nur Karl las Zeitung, aber egal, wenigstens nervte er nicht. Plötzlich schreckten die Jungs und Mädels hoch und drehten sich um. Ich schaute in die vorletzte Reihe, wo Marios Hand noch flach auf dem Tisch lag. Vermutlich hat er mit seiner flachen Hand auf den Tisch geschlagen. Er schnaufte ein wenig, seine Nüstern blähten sich nervös und er rollte mit den Augen. Ich wartete darauf, dass er Feuer spie. Ganz vorsichtig ging ich auf ihn zu und fragte, ob ich ihm denn helfen könne. Langsam, gaaanz langsam, aber bestimmt schüttelte er den Kopf und zwischen zusammengebissenen Zähnen kämpfte sich der Name seiner Banknachbarin hervor: "Aileen! Bitte!"
Aileen lächelte unschuldig und strich sich mit der linken Hand ihre langen braunen Haare aus dem Gesicht. Ihre braunen Kulleraugen leuchteten. Mario kämpfte immer noch mit sich. "Aileen, hör bitte auf! Vaduz, Vaduz, Vaduz!" Dann lachte Aileen hell und gab ihre Erklärung dafür, warum sie immer den Namen der Hauptstadt Liechtensteins vor sich hin murmelte. "Wenn ich es vor mich hersage, dann find ich es schneller!" Mario schien kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Er verdrehte nochmals die Augen, blickte wie zu einem Stoßgebet gen Himmel und bekreuzigte sich dann noch ein wenig zu pathetisch.
Manche mögen seine Reaktion für völlig überzogen halten, aber all denen sei gesagt, sie kennen Aileen nicht. Ihr Freund teilte einer lieben Kollegin vor kurzem völlig unvermittelt mit, dass er ja durchaus auf Mädels stünde, die ein wenig schusselig seien, aber Aileen würde es dann doch übertreiben.
Aileen hatte nun ihren Kopf wieder in den Atlas versenkt, um weiterzusuchen. Erschrocken schaute sie nach oben, erst sah sie mich an und dann Mario. "Jetzt hab ich vergessen, was ich suche!" "Vaduz", antwortete ich vorsichtig, denn ich sah schon, dass Marios linke Augenbraue wieder nervös zu zucken begann...
Am Ende der Stunde gab es glücklicherweise keine Toten, sondern nur fröhliche Schüler, die mir schon mal schöne Ferien wünschten, falls wir uns morgen nicht mehr sehen sollten. Da trat Nico an mich heran, senkte seine Stimme in einen etwas seltsamen Tonfall, der durchaus als bemitleidend zu erkennen war und merkte noch an, dass wir Lehrer ja nun leider auch in den Ferien in die Schule kommen müssten. Ich fragte entgeistert, wie er denn darauf komme. (Nur so nebenbei möchte ich doch noch anmerken, dass das nicht so ganz falsch ist, aber wir müssen nicht in jeden Ferien auf der Matte stehen.) "Naja" begann er zu stottern, "das hat mir mal jemand erzählt, dass Sie auch in den Ferien hier sein müssen." Daniel schritt beherzt ein und konterte blitzschnell und messerscharf: "Mensch Maier, du glaubst wohl auch die Lehrer hätten sonst keine Hobbies!" Genau, dachte ich bei mir und freute mich, dass Daniel den Maier mal so richtig abgebügelt hatte.
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