Dienstag, 13. November 2012

Ein Drahtseilakt

Wir befinden uns im Geographie-Unterricht der achten Klasse. Es ist unruhig und laut. Ich warte darauf, dass ich endlich "Guten Morgen" sagen kann, um mit dem Unterricht zu starten. So Vertretungsstunden sind doch immer was Feines, vor allem dann wenn die Schüler der Ansicht sind, dass das doch gar kein richtiger Unterricht sei. Denn beispielsweise müssen Silke und Josh noch ganz dringend was mit Max und Konni klären. Auch Henni und Phil aus meinem kleinen Wirtschaftskurs, die ich grad noch zwei Stunden vorher in Wirtschaft hatte und die da wirklich zucker waren, sind noch am Quatschen. Meine Laune sinkt nahezu auf den Nullpunkt. Ich erhebe meine Stimme und weise kurz, aber heftig darauf hin, dass die Pause vorbei ist. Zumindest Henni und Phil zucken kurz zusammen und nehmen ihren Platz ein. 
Allerdings muss ich noch die Eine oder den Anderen gesondert ermahnen und deutlich zu machen, dass ich jetzt da sei und ich gern mit dem Unterricht beginnen würde. Ich verstehe schon, dass die Pausen viel zu kurz sind. Geht mir ja im Prinzip genauso. Aber ich hab schließlich schon meinen Darf-Schein mit Stempel von der Uni. Leider verstehen das so manche Schüler nicht, dass es nicht um meinen Unterricht und meine Noten geht. Nun es ist schon verständlich, dass in dem Alter die Frisur, das Make up oder der Käfer auf dem Fensterbrett wichtiger sind. Manchmal ist es eben auch wichtiger in der Klasse die Hackordnung wiederherzustellen und klar zu machen, was man so im Allgemeinen und im Besonderen von Unterricht und Schule hält, seitens der Schüler und dann natürlich auch meinerseits.
Mein Blick wurde ernst. Ich verschränkte meine Arme vor dem Körper und meine Stimme wurde scharf, um sich einen Weg durch den Lärm in die Gehörgänge der Schüler zu schneiden. Endlich kehrte Ruhe ein und genau in diesem Moment schaute mich Henni ziemlich entgeistert, nein, nahezu erschüttert an. Er schüttelte heftig den Kopf. "Frau Dingens in Wirtschaft sind Sie immer so lustig und gut gelaunt." Ich denke noch so bei mir, dass der Junge mal den Nagel auf den Kopf getroffen hat und antworte: "Vielleicht könntest du ja mal deiner Klasse erklären, warum ich hier immer so ernst und böse bin." Da schüttelt Henni wieder den Kopf: "Ne, das lohnt nicht." - "Stimmt, Henni, das lohnt nicht..." und lächle versöhnlich.

So balanciere ich weiter auf dem Drahtseil zwischen den Schüler, die gerne mitarbeiten wollten, sich aber nicht so recht konzentrieren können, weil die Anderen zu laut sind.

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