Mittwoch, 17. Oktober 2012

Orientierungslosigkeit

Eine meiner Ansicht nach schlichte geographische Aufgabe, die zum Aufwärmen, also laut didaktischer Klassifikation, zur Motivation gedacht war, führte mich nahezu in eine persönliche Sinnkrise. Um den lernwilligen und bis in die Haarspitzen motivierten Kinderchen einen groben Überblick über die physische Geographie der USA zu geben, bekamen die Lieben die gewöhnlich durchaus beliebte Aufgabe einen Lückentext auszufüllen. Dieser Text beschrieb eine kleine Rundreise durch die USA und sollte mit Hilfe des Atlasses ausgefüllt werden. Meiner Ansicht nach, die sich im Nachhinein mal wieder als völlig verquer herausstellen sollte, müsste dies doch für eine neunte Klasse ohne größere Probleme möglich sein.
Nach dem Austeilen der Arbeitsblätter lautete direkt mal die erste Aufforderung an mich, dass ich doch schon mal die Seitenzahl im Atlas nennen solle. Natürlich tat ich das nicht, denn es war doch klar, dass zur Lösung dieses Lückentextes eine Karte der USA brauchbar wäre. Nun zumindest für mich war das einleuchtend. Diese Ansicht ist allerdings natürlich ausgesprochen arrogant, schließlich hab ich das ja auch mehrere Jahre studiert. 
Nun forderte ich die fleißigen Mäuschen auf, dass sie sich selbst eine Karte suchen sollten. Entsetzt, geradezu schockiert, rief Maja aus: "Was? Soll ich jetzt den ganzen Atlas durchblättern, um die passende Karte zu finden?" Trocken entgegnete ich nur, dass ich einer 9. Klasse nicht mehr erkläre, wie ein Atlas funktioniert, also so mit Inhaltsverzeichnis, Kartenübersicht und Register. So verdrehte Maja nur die Augen und begann doch durchaus leicht frustriert den Atlas von vorn nach hinten durchzublättern. Blöd nur, dass die Biester immer mit den ganzen detaillierten Deutschlandkarten beginnen. Das könnte nun noch ein wenig dauern.
Einige begannen schon zu schreiben und ich kontrollierte im Vorbeigehen, welche Karten aufgeschlagen wurden. Oh, dachte ich, wie schön, ich bin gespannt wie Mario die Gebirge in der historischen Karte der Bürgerkriege finden möchte. Nachdem er völlig geschafft mit dem Kopf auf die Tischplatte knallte, erklärte er mir, dass er keine Karten lesen könne. Ich erklärte ihm freundlich, dass er sich die falsche Karte ausgesucht hatte. "Aber, aber...", schnaufte er, "das ist doch eine USA-Karte." - "Ja, aber schau mal, die Karte hat doch einen Titel. Was steht denn hier?" - "Och, das ist doch Scheiße, ich wusste das ich das nicht kann." Und weil ich mit dem pädagogisch wertvoll - Stempel auf der Stirn rumlaufe, habe ich dem Jungen die richtige Karte gezeigt. Eine ähnliche Katastrophe erwartete mich bei Marc, der versuchte den Großen Salzsee auf der Weltkarte zu finden. Aber wie schon erwähnt, ich bin absolut pädagogisch wertvoll.
Noch blieb ich ruhig, aber als mich dann Mario, der zwar jetzt mit der richtigen Karte, aber schon wieder mit dem Kopf auf der Tischplatte signalisierte, dass er zu blöd sei und dass das alles Scheiße sei, schwante mir Böses. Der Junge fragte mich tatsächlich, was denn mit Gebirgszug gemeint sei. Fassungslosigkeit machte sich in mir breit. Wie erkläre ich Gebirgszug? Ähm, so irgendwie viele aneinander gereihte Berge und keine Eisenbahn in bergigen Gelände. Doch wer meint, dass sei schon alles, der irrt. Maja war schon wieder rasend und fast auf 180. Dann platzte sie direkt lauthals in den Unterricht hinein: "Und wo ist jetzt schon wieder Osten?" Ich schüttelte nur den Kopf und anstatt mit der Gegenfrage  "Schämst du dich nicht?" oder "Tut Dummheit eigentlich weh? Ich weiß das ja nicht." zu kontern, blieb ich fast versteinert stehen. "Nein, ich erkläre dir nicht die Himmelsrichtungen." - "Na gut, wenn Sie mir nicht helfen, dann kann ich die Aufgabe nicht machen." Mittlerweile hätte ich mein pädagogisch wertvoll gern in die Tonne getreten oder im Clo runtergespült, aber ich blieb doch tatsächlich erstaunlich ruhig.
Bloß gut, dass mich noch keiner gefragt hat, wozu er später mal Karten lesen muss. Schließlich gibts doch Navis, GPS und gugl mäps.

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