Montag, 12. November 2018

Eine Jacke und Stifte

Lisa ist sonst immer zuverlässig und pünktlich zum Stundenbeginn an ihrem Platz. Das war sie heute auch. Doch noch bevor ich die Zehntklässer begrüßen konnte, riss sie die Augen auf. Ihr linker Arm schnellte nach oben. Noch ehe ich ihren Namen sagen konnte und fragen konnte, was sie wolle, rief sie mir zu: "Frau Dingens, entschuldigen Sie bitte, aber ich muss noch meine Jacke holen." 

Höflich war sie ja. 

Ich war irritiert. Stirnrunzelnd gab ich zu verstehen, dass ich nicht verstand, wozu sie im Unterricht ihre Jacke brauchte. Lisa verstand mich mittlerweile ohne Worte. So erklärte sie mir, dass ihre Stifte in ihrer Jacke seien und diese brauche sie schließlich im Unterricht. Richtig. Ich nickte langsam, ganz langsam. "O-k-a-y", stotterte ich. Lisa verschwand.
Ich atmete tief durch. "Früher" begann ich und das obwohl ich diesen Satzanfang im Grunde furchtbar finde. Aber ich koketiere hin und wieder gern damit, da ich auf diese Weise eine ganz eigene Aufmerksamkeit bekomme. Schüler mögen persönliche Anekdoten. Außerdem funktioniert dieses "früher" auch als "fishing for compliments", weil Frau Dingens ja noch gar nicht so alt ist. 
Also ich erhob meine Stimme: "Früher, als ich noch zur Schule ging," und fügte mit einem Augenzwinkern hinzu "so etwa vor hundert Jahren. Da hatte ich eine Schultasche, in welcher unter anderem eine Federmappe war und in dieser Federmappe waren Stifte." Mittlerweile war Lisa wieder da und grinste. "Ich hab halt meine Stifte in der Jacke..."

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen